»Mich reizt das Abgründige in der scheinbaren ›Normalität‹.«
Ein Gespräch mit unserem Autor Christian Boochs über eine Ermittlerin mit Ecken und Kanten, ASMR, Wachsleichen und seine Thriller NACHTFLÜSTERN und ROTE JAGD
Lieber Christian Boochs, in einer Zeit, in der jede Nachrichtensendung zur Horrorshow zu werden scheint: Was reizt Sie daran, harte Thriller zu schreiben?
Christian Boochs: »Mich reizt das Abgründige in der scheinbaren ›Normalität‹. Man nimmt gern das Leben und alles, was dazugehört als selbstverständlich hin. Das ›Böse‹ scheint weit weg. Bis es das nicht mehr ist. Und was ist überhaupt ›das Böse‹? Es reizt mich, an der Oberfläche zu kratzen. Oft stellt man fest, dass die dunklen Seiten ganz dicht darunter lauern. Nessa, Profilerin und Hauptfigur in meinem Thriller NACHTFLÜSTERN, sagt irgendwann einmal: ›Niemand ist sicher. Nirgendwo. Niemals.‹ Das unterschreibe ich. Der Gedanke kann sehr beängstigend sein – oder aber befreiend: Das Leben ist ein ständiger Ritt auf Messers Schneide. Nur ist uns das selten bewusst. Dazu kommt vielleicht noch, dass ich die fiktive Horrorshow in meinem Kopf bis zu einem gewissen Grad kontrollieren kann, während Kontrolle in der Realität Illusion ist. Umso packender stelle ich es mir vor, als Leser oder Leserin Nessas Reise in die Abgründe der menschlichen Seele zu begleiten.«
Sie greifen in Ihrem Thriller NACHTFLÜSTERN den Trend ASMR auf – was hat es damit auf sich, und warum hat Sie dieses Thema gereizt?
Christian Boochs: »ASMR (›Autonome sensorische Meridianreaktion‹) bezeichnet die Wahrnehmung dieses leichten Kribbelns, vornehmlich auf der Kopfhaut und entlang der Wirbelsäule. Ich kann mich erinnern, diese Empfindung schon als Kind gekannt zu haben, wusste aber nicht, dass man das gezielt auslösen kann, und den Begriff gab es damals noch nicht. Mit dem, was wir jetzt als ASMR kennen, also z. B. Entspannungsvideos auf YouTube und ähnlichen Plattformen, bin ich vor einigen Jahren in Berührung gekommen. Damals gab es noch keinen Hype um die Sache. Die Verbindung zu Nessa, der Hauptfigur von NACHTFLÜSTERN, kam irgendwann, als YouTube mir ein bestimmtes ASMR-Video vorschlug. Zu der Zeit hatte ich die Figur Nessa Wolf, eine taffe BKA-Profilerin, und ein bestimmtes Verbrechen im Kopf. Was fehlte, war der Rahmen für beides. Da kam das Video und es passte einfach. Die Ästhetik dieses Videos wurde dann auch perfekt für das Cover von NACHTFLÜSTERN eingefangen. Durch die Recherche zum Buch stieß ich schließlich auf diese dunkle, abgründige Seite, die man – wie überall – auch in der ASMR-Community finden kann. Gerade die scheinbare Nähe zu den ASMRtists, diese intime Atmosphäre, die in vielen Videos aufgebaut wird, bietet sehr viel Raum für Abgründiges.«
In NACHTFLÜSTERN heftet sich die Profilerin Nessa Wolf auf die Spuren eines Killers, der es auf junge Frauen abgesehen hat. Was mögen Sie an Ihrer Ermittlerin?
Christian Boochs: »Nessa ist echt. Sie kommt aus zerrütteten Familienverhältnissen, hat wegen ihrer Mutter laufend mit Vorurteilen zu kämpfen. Dazu ist sie eine weibliche Person in einem immer noch vorwiegend männlichen Umfeld und sie ist immer die Außenseiterin, die aneckt. Aber sie ist erfolgreich in dem, was sie tut. Dabei ist sie nicht perfekt. Sie macht Fehler, hat blinde Flecken. Sie beugt die Regeln, allerdings nicht aus Eigennutz. Sie hat Ecken und Kanten, ist aber auch empathisch und emotional, was in ihrem Job nicht immer nur hilfreich ist. Dazu hat sie diese Beziehung zu Charly, den sie als Katzensitter und Mitbewohner beschreibt, der aber weit mehr ist: ein echter Freund. Nessa ist nicht unantastbar oder unfehlbar – und sie macht auch keinen Hehl daraus.«
Haben Sie eine persönliche Lieblingsszene in NACHTFLÜSTERN, an die Sie sich besonders gerne erinnern?
Christian Boochs: »Oh, das ist schwierig. Alle? Da gibt es ein paar, aber mein Favorit ist vielleicht der Anfang: Nessas erster Auftritt. Diese ›Kamerafahrt‹ über den Wald. Ein kleines Städtchen in der Nähe. Alles wirkt idyllisch und nett. Es ist früher Morgen. Man trifft Nessa im feuchten Gras, spürt mit ihr, wie die Nässe durch die Nähte an den Schuhen dringt. Und dann ist da diese ermordete Person.«
In ROTE JAGD wird Nessa Wolf bei ihren Ermittlungen von Tony Yamamoto unterstützt. Wie würden Sie den Polizisten in ein paar Sätzen beschreiben?
Christian Boochs: »Tony ist ein loyaler Sturkopf und ehrgeizig. Regeln und korrekte Polizeiarbeit sind ihm äußerst wichtig, was ihn natürlich hier und da auf Kollisionskurs mit Nessa bringt. Aber er ist auch ein Außenseiter, der gelegentlich, wenn auch nicht unbedingt freiwillig, bequem zwischen allen Stühlen sitzt.«
Nach einem holprigen Start gelingt Nessa Wolf und Tony Yamamoto eine wertschätzende Zusammenarbeit. Was macht die beiden zu einem guten Team?
Christian Boochs: »Auch wenn Tony stur ist, so ist er doch sehr lernwillig, eine Eigenschaft, die Nessa zu schätzen weiß. Letztlich lässt sie das gemeinsame Ziel, die Gegensätze überwinden. Die Grausamkeit des Verbrechens, mit dem sie sich konfrontiert sehen, schweißt schließlich zusammen.«
Viele Rezensent:innen schreiben, dass sie sich auf das Wiedersehen mit Profilerin Nessa Wolf in ROTE JAGD gefreut haben. Wie ist es Ihnen beim Schreiben ergangen? Fiel es Ihnen leicht, erneut in Nessa Wolfs Gedankenwelt einzutauchen?
Christian Boochs: »Mir geht es ähnlich wie den Lesenden: Ich freue mich auf das Wiedersehen mit Nessa. Auch wenn sie manchmal kratzbürstig auftritt, macht sie es mir doch leicht, mich einzudenken und das Gefühl wiederzufinden. Nessa ist halt Nessa. Man muss sie mögen.«
In ROTE JAGD bekommt es Nessa Wolf unter anderem mit einer Wachsleiche zu tun … Kamen Ihnen die Ideen für ROTE JAGD bereits beim Schreiben von NACHTFLÜSTERN – oder begann der kreative Prozess völlig unabhängig davon auf einem metaphorischen leeren Blatt?
Christian Boochs: »Ursprünglich ist die Idee zu ROTE JAGD älter als NACHTFLÜSTERN. Ich bin quasi in einer Friedhofsgärtnerei aufgewachsen und früh mit Sterben, Tod und auch dem Geschäft dahinter in Berührung gekommen. Das Phänomen Wachsleiche, das ja tatsächlich ein großes Problem ist, begleitet mich schon eine ganze Weile. Bei der Ideenfindung zu ROTE JAGD fiel mir das wieder ein und dann galt es einfach, die Punkte zu verbinden. Nessa kam erst viel später ins Spiel, aber als das passierte, passte es einfach.«
Das Gespräch führten Frederik Bahr und Florina Evers aus dem dotbooks-Lektorat.
Christian Boochs ist Berufsautor, Ex-Soldat und Hundebesitzer. Er liebt es, beim Schreiben menschliche Abgründe auszuloten. Mit seinen düsteren Thrillern konnte Boochs bereits eine breite, stetig wachsende Leserschaft für sich gewinnen.
Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seine Thriller »Nachtflüstern« und »Rote Jagd«. Die Hörbücher und Printausgaben sind bei SAGA Egmont erschienen.
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