Kristina Günak über „Die Seelenleserin“
„Keine Figur ist einfach nur gut oder böse.“
Unsere Autorin Kristina Günak über Schreibblockaden, Figuren mit Eigenleben und ihren Fantasyroman DIE SEELENLESERIN:
Ich kenne das. Immer nach ungefähr 10.000 Worten werde ich von einer gewissen Schreibhemmung ereilt. Die Worte werden dann plötzlich nur noch tröpfchenweise von meinem Hirn an meine Finger gesendet. Ich bin mittlerweile daran gewöhnt, aber es nervt. Weil gewöhnlich jetzt der schwierigste Teil des Buches ansteht.
Die ersten 10.000 Worte sind herrlich einfach. Alles ist neu, alles ist möglich, die Welt ist noch nach meinem Belieben zu verändern. Aber dann muss ich mich festlegen, die Figuren müssen zu 100 % in ihrer Motivation klar sein, der Hintergrund, die komplette Vita muss feststehen und ich muss das Ende des Buches kennen.
Bei der Seelenleserin war der Böse, nämlich Argesai, bis zu diesem Punkt schlicht böse. Und Sam, der Engel, gut. Ein einfaches Prinzip, das aber leider so nicht funktioniert.
Keine Figur ist einfach nur gut oder böse. Das wäre ja noch schöner und fürchterlich eindimensional. Das Schubladenprinzip ist ja durchaus geeignet, sich in einer komplizierten Welt zurechtzufinden, aber für einen Roman ist es einfach nur langweilig. Denn eigentlich will ich doch dem Leser die Figur nahe bringen, auch wenn sie eigentlich nicht gemocht werden kann, weil es sich nun mal um den vermeintliche Bösewicht handelt. Damit das funktioniert, muss ich sie mit einer nachvollziehbaren Motivation und Komplexität ausstatten und das kostet Zeit. Und Nerven.
Ist das aber erst mal geschafft, folgt ein hochkreativer Prozess (auch genannt: Der Rest vom Buch), in dem manchmal sehr sonderbare Dinge passieren. Bei „Die Seelenleserin“ war das Sonderbarste wohl die Tatsache, dass sich das Tor zur Finsternis ausgerechnet in Berlin vor dem Kanzleramt öffnet.
Der Eingang zur Unterwelt direkt vor der Machtzentrale in Deutschland? Das war keine Absicht. Es ist einfach so passiert. Denn auch, wenn ich meine Figuren zu diesem Zeitpunkt eigentlich im Griff habe – sie machen ja doch, was sie wollen.