Jörg Liemann im Interview

16. November 2018
dotbooks

»Das Spannende bei Kommissar Sternenberg ist: Wir wissen nie vorher, ob ein Anruf bei ihm in der Telefonseelsorge einfach nur ein Anruf ist, eine Allegorie auf einen seiner Fälle oder wirklich in Beziehung zu seinen Ermittlungen steht.«

Ein Gespräch mit unserem Autor Jörg Liemann über einen außergewöhnlichen Kommissar und die Herausforderungen seiner freiberuflichen Tätigkeit:

Lieber Herr Liemann, Sie selbst bezeichnen Ihren Protagonisten Kommissar Kai Sternenberg als »etwas ungewöhnlichen Ermittler«. Was ist für Sie das Faszinierende an Sternenbergs Charakter?

Jörg Liemann: »Er drückt sich nicht, wenn er Todesnachrichten überbringen muss. In gewisser Weise mag er es sogar – nicht aus Sadismus, sondern weil er es als Seelsorger eben gut kann. Damit durchbricht er ein typisches Krimi-Klischee. Außerdem kann ich mit ihm im Grunde einen Roman über die Telefonseelsorge schreiben – das gibt es sonst nicht. Die Telefonseelsorge ist ein Echolot, das die Abgründe unserer Gesellschaft und unserer verqueren Beziehungen erforscht. Ähnlich dem, was auch Kripobeamte erfahren, aber mehr auf der psychologischen Ebene. Und ich mag Sternenberg einfach, weil einige Dinge, für die er im Leben brennt, seine besonderen Stärken zum Vorschein bringen, während er andere – etwa die Erziehung seiner Zwillingstöchter oder die Liebe – nicht recht auf die Reihe bekommt.«

Welche Szene in STERNENBERG UND DIE SPUR DER FLAMMEN hat Ihnen beim Schreiben am meisten Spaß gemacht und warum?

Jörg Liemann: »Ich hab’s eben noch mal durchgeblättert, es sind zu viele. Das erste kurze Kapitel ist ausschließlich ein Dialog, ein Telefonat, das der Leser zunächst nicht einordnen kann. Wir erfahren von Sternenberg, dass der erste Satz eines Gesprächs bei der Seelsorge oft der Schlüssel zum Verständnis ist – das wird hier ebenfalls gezeigt, es gilt eben auch für den ersten Satz eines Romans. Außerdem mag ich die kleinen Besonderheiten: wie Sternenberg seiner portugiesischen Mitarbeiterin Isabel beim Essen zuschaut, wie er das Kinderheim erlebt und was er dann mit seinem Hund veranstaltet. Viel gelacht habe ich bei den missratenen Kommunikationen, besonders auf der Feuerwache – in Sternenberg und die Spur der Flammen geht es ja um Brandstiftungen. Ich mag das Buch auch als Berlin-Roman. Toll waren die spannenden Begegnungen auf dem Dach – mal verliebt sich einer, mal wird jemand heruntergestoßen … Oft steckt die Hauptidee nicht in einer ganzen Szene, sondern in drei, vier Zeilen Dialog. Aber mehr verrate ich nicht. Ich möchte, dass Sternenbergs Fälle nicht nur Krimis sind, sondern Kriminal-Romane. Die Seiten sind nicht runtergeschrieben, jede Zeile will etwas sagen und anregen.«

Wie hat Ihre eigene Tätigkeit als Telefonseelsorger Ihre Arbeit an den Kriminalromanen beeinflusst oder sogar inspiriert?

Jörg Liemann: »Zwischen meiner Tätigkeit als Telefonseelsorger und den Kriminalromanen sind einige Jahre vergangen – und das war gut so. Hätte ich damals direkt über die Telefonseelsorge geschrieben, wären die Kriminalfälle deutlich dokumentarischer geworden, aber das verbietet sich, denn die Anrufe unterliegen ja der Verschwiegenheit. Mit dem Abstand der Zeit scheidet sich das Wesentliche vom Effektheischerischen, und aus dem Ergebnis lässt sich etwas Neues modellieren, das auf frappierende Weise wahr ist. Das Spannende bei Sternenberg ist: Wir wissen nie vorher, ob ein Anruf einfach nur ein Anruf bei der Telefonseelsorge ist, eine Allegorie auf einen seiner Fälle oder wirklich in Beziehung zu seinen Ermittlungen steht.«

In der Fortsetzung, Sternenberg und die Toten im Wald, geht ein Mörder im Berliner Grunewald um und ersticht scheinbar wahllos seine Opfer. Erzählen Sie uns, was Ihrer Meinung nach diesen zweiten Fall noch einmal ganz besonders lesenswert macht. 

Jörg Liemann: »Inspiriert wurde ich zu diesem Fall durch eine Wanderung in der oberfränkischen Königsheide. Dort entdeckte ich einen Stein mit der Aufschrift ›1605‹. Einiges lässt sich über den Dreihirtenstein im Wald recherchieren, aber um ihn ranken sich auch weiterhin Geheimnisse und Legenden. Inwieweit das nun aber mit Sternenbergs zweitem Fall zusammenhängt, das möchte ich natürlich an dieser Stelle noch nicht vorwegnehmen. Nur so viel sei gesagt: In STERNENBERG UND DIE TOTEN IM WALD geht es nicht nur um die Mordfälle, sondern vielmehr um ein verzwicktes Spiel mit Rollen und Charakteren. Kai Sternenberg stößt auf ein sonderbares, verstörendes Gewerbe, bei dem es um Identitätswechsel geht. Und so kann man dieses Thema – die Frage, wer ist das Gegenüber wirklich und wer bin ich? – wie ein basso continuo überall im Roman finden, in vielen Figuren, in erster Linie aber in der Fallkonstellation selbst. Der Fall hat mir beim Schreiben auch besonders wegen seiner Konstellationen und Orte Spaß gemacht: Ein Sarglager, ein fiktives Neuköllner Restaurant (in dem fränkisch gesprochen wird), eine nächtliche Fahrt durch die Burgfrauenstraße (die es in Berlin wirklich gibt) und nicht zuletzt ein dubioser Besuch in einem Sex-Shop … Nach Sternenbergs erstem Fall stand für mich fest: Diese Reihe musste weitergehen, denn ich war selbst neugierig geworden, wie sich der Berliner Kommissar und sein buntes Team weiterentwickeln.«

Das Gespräch führte Monika Malessa aus dem dotbooks-Lektorat.

Jörg Liemann, 1964 in Berlin geboren, gründete eine Schülerzeitung und befasst sich seitdem intensiv mit dem Schreiben. Er entwickelte schon in jungen Jahren großes psychologisches Feingefühl und gehörte zu den jüngsten Telefonseelsorgern Deutschlands. Mehr als zwei Jahrzehnte arbeitete er im Bereich Terrorismusbekämpfung, heute ist er Politologe und Experte für Luft- und Schifffahrt beim Berliner Senat. Seit 2011 veröffentlicht er zahlreiche Romane und Erzählungen.

Bei dotbooks veröffentlichte Jörg Liemann die beiden Kriminalromane rund um den charismatischen Kommissar Kai Sternenberg: Sternenberg und die Spur der Flammen und Sternenberg und die Toten im Wald.

 

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