Albrecht Mangler über die (nicht so) „schöne neue Welt“

13. Dezember 2014
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Albrecht Mangler (c) Norsin Tancik

Albrecht Mangler (c) Norsin Tancik

Viele Fragezeichen | Wie unser Leben sich ändert

Einsam würde mein Leben sein. Nie wieder sollte ich angerufen werden. Als ich 1998 mein erstes Mobiltelefon kaufte, drohten nicht wenige meiner Freunde mit Boykott: „Bist du so wichtig, dass du ein Handy brauchst?“ – „Ich ruf dich nicht darauf an. Viel zu teuer.“ – „Wichtigtuer.“ Parallel kannte ich nur drei andere Leute, die ebenfalls jederzeit und überall erreichbar waren. Immerhin konnte ich mit diesen SMS schreiben.

Nie wieder drei Monate auf neue Musik warten, deren Lieferung sich als Asien-Import trotz Anzahlung beim örtlichen Elektronikhändler in der Kleinstadt ewig hinzog. Und trotzdem: Als ich 2000 meine erste Musikdatei aus dem Netz herunterlud, dachte ich: „Auf den Kauf von CDs und Platten kann ich nicht verzichten. Ich brauche etwas in der Hand. Ein Booklet zum Blättern.“

„Physische Bücher bedeuten für mich Lebensqualität“ – das war noch 2009 mein Credo: „Sie riechen gut und man kann sie in der Badewanne lesen.“ Allerdings stellte es sich als schwierig heraus, zehn davon beim Fahrradurlaub mitzunehmen. Als ich 2010 in einem Hotel im Schwarzwald abends um 21:00 Uhr mit dem Handy einen neuen Krimi kaufte, wusste ich: „Das ist ein Vorteil, auf den ich nie wieder verzichten will.“ Zumal es mir schon immer wichtiger war, ein Buch in bester Erinnerung zu behalten, statt es nach der Lektüre ins Regal zu stellen.

Als ich 2011 zum ersten Mal mit jemand sprach, der sich mit Quantified Self beschäftigte, der „Selbstvermessung“ von Daten wie Puls oder Ähnlichem, hielt ich das noch für eine Nische. Heute denken Versicherungen laut darüber nach – und wie selbstverständlich sind solche Funktionen inzwischen in Apps und „Wearables“ wie Smart-Watches integriert.

Meine Eltern waren noch gegen die Volkszählung. Heute ist jeder sichtbar durch seine Datenströme: beim Einkauf mit der EC Karte, beim Reisen, durch E-Mail, soziale Netzwerke, die Nutzung von ganz normalen Telefonen. Autos, die selber fahren, Kühlschränke, die Einkäufe tätigen, Drucker, die Winterjacken produzieren, allgegenwärtige Kommunikation und Sharing Economy sind Teil des Alltags oder nicht mehr weit davon entfernt. Ein Wandel, der vieles einfacher macht, effizienter, schneller, lustiger, intuitiver, demokratischer – kurz: besser. Zumindest sind die Protagonisten in „Unverschlüsselt“ dieser Meinung, und genau dieser Gedanke hat mich zum Roman inspiriert: Was wäre, wenn man eine Rückzahlung von der Krankenkasse bekommt, weil man gesundes Essen einkauft? Toll! Bestellte Produkte sofort zu Hause nach dem Kauf ausdrucken? Wunderbar! Politiker treffen nicht mehr in Hinterzimmern aufeinander, sondern unter dem allgegenwärtigen Auge der Öffentlichkeit? Demokratisch! Immer wissen, wo Freunde sind, um sich mit ihnen auszutauschen und sie zu treffen? Praktisch! Nie mehr daran denken müssen, am Sonntag die Oma oder Tante Inge anzurufen und nach dem Befinden zu fragen? Eine Befreiung!

10551487_841726599211664_4107203229494388184_oBei der Arbeit an „Unverschlüsselt“ haben mich aber auch die Fragen nach den Schattenseiten der „schönen neuen Welt“ bewegt: Wie kann man untertauchen oder etwas verbergen, wenn alles transparent ist? Wie ist man bescheiden, wenn alle besonders sind? Wie kann ich individuell bleiben, wenn alles Kommerz ist? Überall, ortsunabhängig und für jeden nachvollziehbar?

Die aus meiner Sicht großen Fragen der Zukunft werden gerade verhandelt: Wie gehen wir mit Privatsphäre im Netz um? Mit Kunst und Urheberrechten? Wer ist Individuum und was ist Masse? Wem gehört etwas und wer nutzt es? Die Digitalisierung ist bereits tief im Leben verwurzelt und wird wie selbstverständlich jeden Tag genutzt. Es ist daher eine wichtige Zeit, in der wir heute leben. Eine revolutionäre Zeit, in der jeder diese Revolution begleitet. Das zeigen auch andere Veröffentlichungen aus diesem Jahr wie Dave Eggers’ Roman „Der Circle“ oder „Drohnenland“ von Tom Hillenbrandt, welche die Frage stellen: Wie soll die Zukunft aussehen?

Mangler-Unverschluesselt-300dpiDie Welt der Zukunft kennt bei Eggers dabei vor allem eines: totale Transparenz. „Privacy is Theft“ – diese Maxime lässt Eggers seine Protagonistin vorleben. Volle Transparenz ermöglicht dabei auch volle Kontrolle, die an Orwells „1984“ erinnert. Mit einem wichtigen Unterschied: Die handelnden Personen versuchen nicht, der Überwachung zu entkommen, sondern suchen diese im Gegenteil sogar zu ihrem Vorteil. Sei es, um Kriminelle zu fassen, Politik durchzusetzen oder einfach um zu sehen, ob die Wellen an einem bestimmten Strandabschnitt zum Surfen einladen.

Aber ist das erstrebenswert?

Wie soll die Zukunft also aussehen? „Unverschlüsselt“ ist meine Antwort – und ich freue mich sehr auf eure Reaktionen und Meinungen!