»Es war mir wichtig, ein Bild von der Kraft von Freundschaft und Liebe zu zeichnen, die sich in der dunkelsten Stunde bewähren muss.«

21. Dezember 2020
dotbooks

Ein Gespräch mit unserer Autorin Judith Nicolai darüber, was sie zu ihren Romanen inspirierte, wie sie über die Zeit des Zweiten Weltkriegs recherchierte und welche außergewöhnliche Rolle viele Frauen während dieser Zeit einnahmen:

Liebe Frau Nicolai, Ihr Roman DIE TÖCHTER DER STURMINSEL spielt während des Zweiten Weltkriegs auf der britischen Kanalinsel Guernsey – wie kamen Sie auf diesen ungewöhnlichen Schauplatz?

Judith Nicolai: »Die Kanalinseln als Romanschauplatz schwirrten mir schon im Hinterkopf herum, seit ich vor Jahren das erste Mal darüber gelesen habe, dass sie während des 2. Weltkriegs von der deutschen Wehrmacht besetzt waren. Zum einen ist das ein Teil der deutschen Geschichte, der wohl nur wenigen bekannt ist, zum anderen bietet sich diese Konstellation ideal als spannendes Romansetting an: Besatzer und Besetzte, die auf den malerischen Inseln im Ärmelkanal auf engstem Raum miteinander leben, ja überleben müssen. Anfangs war diese erzwungene Koexistenz vergleichsweise friedlich, soweit man das über eine Besatzung überhaupt sagen kann. Die Inselbewohner versuchten, diese ›lästige‹ Situation mit typisch britischer ›stiff upper lip‹ durchzustehen und die Deutschen mehr oder weniger zu ignorieren. Die Wehrmachtssoldaten wiederum waren angewiesen, sich – im Gegensatz zu den anderen besetzten Gebieten – auf den Kanalinseln anständig zu verhalten. Doch mit der Zeit wurde die Situation immer angespannter; nach der Befreiung Frankreichs waren die Inseln fast ein Jahr lang völlig von der Außenwelt abgeschnitten, und Inselbewohner und Deutsche hungerten gleichermaßen. Und natürlich schwelen bei einem Zusammenleben auf so engem Raum bald Hass und Liebe gleichermaßen …«

Was hat Sie zu Ihrem Familiengeheimnisroman DIE FRAUEN VOM SCHLEHENHOF inspiriert?

Judith Nicolai: »Die Idee zu diesem Roman hatte ich schon, als ich noch an meiner SCHNEETÄNZERIN-Trilogie schrieb. Greta und Johanna, zwei der Protagonistinnen aus DIE FRAUEN VOM SCHLEHENHOF, kommen bereits dort vor. Allerdings bleibt ihr Schicksal nach dem Einmarsch der Roten Armee in Ostpreußen völlig offen. Und so war mir schnell klar, dass ich auch ihre Geschichte erzählen möchte. Wenn man so will, sind DIE FRAUEN VOM SCHLEHENHOF also ein Spin-Off der SCHNEETÄNZERIN. Außerdem fiel mir dadurch, dass ich zwei der Figuren noch ein Stückchen weiter begleiten durfte, der ›Abschied‹ von meiner ersten Roman-Saga nicht ganz so schwer.«

Im Auftakt ihrer großen SCHNEETÄNZERIN-Trilogie beschreiben Sie das Leben auf einem preußischen Gutshof so anschaulich, dass man meinen könnte, Sie wären selbst auf einem solchen Hof aufgewachsen …

Judith Nicolai: »Auf einem herrschaftlichen Anwesen bin ich zwar nicht groß geworden, aber trotzdem auf dem Land zwischen vielen Katzen, Hunden und Hühnern. Wenn ich nicht auf Bäume geklettert bin, habe ich mich auf dem Pferdehof herumgetrieben – ganz ähnlich wie Anna, die Heldin meiner SCHNEETÄNZERIN-Saga. Daher gehören sonnenbeschienene Kornfelder, knorrige Pflaumenbäume und Waldheidelbeeren auch für mich zum Begriff Heimat. Für mich gibt es nichts Schöneres als einen Sommer auf dem Land und diese unbeschwerte Erfahrung, von der man ein Leben lang zehren kann, wollte ich auch meiner Romanheldin Anna schenken – in ihrer Kindheit und frühen Jugend streift sie mit ihren Freunden Helene und Adam über die reifen Felder und schwimmt in kühlen, klaren Bächen, während der Rest Europas bereits vom Schrecken des Zweiten Weltkriegs überschattet ist. Es ist gewissermaßen ein Luftholen vor dem großen Sturm – ein Sturm, der auch Annas Leben für immer verändern wird und sie und ihre große Liebe Adam grausam auseinanderreißt. Ob sie wieder zueinanderfinden? Das will ich hier noch nicht verraten.«

In Ihrem Roman DIE TÖCHTER DER STURMINSEL erzählen Sie die Schicksale zweier außergewöhnlicher Frauen. Welche Gegensätze prallen bei ihnen aufeinander – und was verbindet sie trotz allem?

Judith Nicolai: »Auf den ersten Blick könnten Alice und Friederike vermutlich gar nicht unterschiedlicher sein: Alice ist auf der Kanalinsel Guernsey geboren, sie ist eine energische Farmerin, die, während ihr Mann bei der britischen Air-Force gegen die Deutschen kämpft, ihre Farm im Krieg allein bewirtschaften muss. Von den Wehrmachtssoldaten, die bei ihr auf dem Hof einquartiert sind, lässt sie sich nichts gefallen. Friederike dagegen scheint anfangs ein zartes, zerbrechliches Wesen, umso mehr in dieser dunklen Zeit des Krieges. Von ihrem Ehemann, einem deutlich älteren Wehrmachtsoffizier, wird Friederike bevormundet; um mehr als um Heim und Herd soll sie sich nicht kümmern. Doch beide Frauen wachsen über sich hinaus, als es gilt, diejenigen zu beschützen, die sie lieben. Und plötzlich sind sie einander gar nicht mehr so unähnlich. Ich denke fast, dass sie gute Freundinnen hätten werden können …«

Was hat Sie an Ihrer Hauptfigur Anna auf Anhieb so fasziniert, dass Sie ihre Geschichte in der großen Schneetänzerin-Trilogie IN ZEITEN DES STURMS unbedingt erzählen wollten?

Judith Nicolai: »Annas Geschichte steht für mich stellvertretend für das Schicksal vieler Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs jung waren. Sie haben nicht nur Tod, Zerstörung und zum Teil den Verlust ihrer Heimat erlebt, sondern auch andere Verletzungen: das jahrelange Warten auf den Geliebten oder Verlobten, wenn der vermisst oder in Gefangenschaft war, die Gewissensnöte, wenn sich die Liebe trotz allem wieder in ihr Leben geschlichen hat. Nicht zuletzt die bittere Tatsache, dass der Krieg vielen Frauen aus Annas Generation die Chance geraubt hat, zu heiraten und eine Familie zu gründen – ganz einfach aus dem Grund, dass ganze Jahrgänge junger Männer quasi ausgelöscht wurden. Das sind Kriegsschicksale, die oft vergessen werden und auf die ich in meiner Schneetänzerin-Trilogie besonders aufmerksam machen will. Es war mir wichtig, ein Bild von der Kraft von Freundschaft und Liebe zu zeichnen, die sich in der dunkelsten Stunde bewähren muss. Wie ein kleines Licht im Sturm, das aber gegen alle Widerstände zu einem Feuer anschwellen kann – angefacht von der Hoffnung und dem Kampfgeist dieser außergewöhnlichen Frauen.«

Ihr Familiengeheimnisroman DIE FRAUEN VOM SCHLEHENHOF spielt über weite Teile in einem beschaulichen Dorf im Schwarzwald. Warum haben Sie sich für diesen Handlungsort entschieden?

Judith Nicolai: »Zum einen sollte für die Hauptfiguren der Bruch mit ihrem bisherigen Leben möglichst groß sein: Hanka lebte in der Großstadt Berlin, Greta und Johanna hat es nach Ende des Zweiten Weltkriegs aus Ostpreußen nach Rothenbach verschlagen – für alle erst mal ein Kulturschock. Letztlich hat der kleine Ort aber doch mehr zu bieten, als sie anfangs erwartet haben.

Außerdem ist die Gegend zwischen Schwarzwald und Rheinebene ein Heimspiel für mich. Ich bin sozusagen selbst in Rothenbach aufgewachsen – beinahe jedenfalls. Alles dort ist mir vertraut, inklusive des Kerwemarktes, der mageren Jesusfigur am Ortseingang und des neugierigen Nachbarn mit der Schiebermütze.«

Ihr Roman DIE TÖCHTER DER STURMINSEL spielt auf der Kanalinsel Guernsey, die während des Zweiten Weltkriegs unter deutscher Besatzung stand. Wo bewegen Sie sich zwischen Fakten und Fiktion?

Judith Nicolai: »Ich sag’s mal so: so viel Fakt wie möglich, so viel Fiktion wie nötig. Die ausgiebige Recherche ist bei den großen politischen Ereignissen kein Problem, bei den Dingen aber, die sich im Kleinen, Privaten abspielen, bei den ganz belanglosen Alltäglichkeiten also, zum Teil ein ganz gewaltiges. Da muss man sich als Autor manchmal einfach auf seinen Instinkt verlassen oder etwas übertragen, was man für ein ähnliches Projekt recherchiert hat. Die politischen Rahmenbedingungen und Ereignisse in meinem Roman beruhen zumeist auf Fakten, zum Beispiel die Tatsache, dass einige Inselbewohner von Guernsey entflohene russische Zwangsarbeiter versteckt und dadurch ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt haben. Als ich Friederike als Frau eines Wehrmachtsoffiziers auf die Kanalinseln schickte, habe ich mich dagegen eher ein bisschen in Richtung Fiktion bewegt – denn dafür, dass deutsche Besatzungssoldaten ihre Ehefrauen in die jeweiligen Länder nachgeholt haben, konnte ich tatsächlich keine Belege finden. Diese dichterische Freiheit habe ich mir dann einfach mal genommen.«

Annas Leben, ihre Reise und die Weggefährten, die sie im Laufe der großen Schneetänzerin-Trilogie IN ZEITEN DES STURMS findet, wirken sehr authentisch. Wie haben Sie dafür recherchiert?

Judith Nicolai: »Ostfront in Preußen, amerikanische Soldaten in Bremen, Überfahrt in die USA– da gab es einiges zu recherchieren und natürlich habe ich mich viel in Bibliotheken herumgetrieben. Es gibt außerdem eine Reihe hochinteressanter Oral-History-Projekte, in denen Zeitzeugen ihren Alltag in Krieg und Nachkriegszeit schildern. So etwas ist für eine Geschichte wie meine SCHNEETÄNZERIN-Saga natürlich unglaublich wertvoll. Auch meine Mutter hat sehr klare Erinnerungen an diese Zeit und die Jahre danach, obwohl sie bei Kriegsende noch ein kleines Mädchen war. Ihre Erzählungen haben mich natürlich beeinflusst.«

Ihr Familiengeheimnisroman DIE FRAUEN VOM SCHLEHENHOF spielt sowohl in der Gegenwart als auch kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Was begeistert Sie am Schreiben auf zwei Zeitebenen?

Judith Nicolai: »Für mich besteht der besondere Reiz darin, dass ich mich als Schriftstellerin durch den Wechsel der Zeitebene zum einen jeweils in einem ganz anderen Umfeld bewege. Das geht schon bei der Kleidung los, die ich beschreibe, bei Redewendungen, die die Protagonisten benutzen, und natürlich beim sozialen Umfeld, den Regeln und Normen, denen die Menschen in ihrer Zeit unterworfen sind.

Zum anderen habe ich dadurch die Möglichkeit, zwei Geschichten zu verbinden und zu zeigen, welchen Einfluss vergangene Ereignisse auf die Menschen in der Gegenwart haben.«

Womit uns in SCHNEETÄNZERIN, dem ersten Band ihrer Bestseller-Reihe, gleich begeistert haben, war die mitreißende und bildreiche Sprache. Wie gehen Sie an das Schreiben heran?

Judith Nicolai: »Zu meinem Leidwesen gehöre ich eher zu den unstrukturierten Schreibern. Bei der SCHNEETÄNZERIN-Saga habe ich mich – mit nicht viel mehr als einer vagen Idee und ein paar Bildern im Kopf – hingesetzt und angefangen zu schreiben. Oft wusste ich noch nicht einmal, was im nächsten Kapitel passieren würde. Das hat mich manchmal fast in die Verzweiflung gestürzt. Tatsächlich fließen meine Ideen – oder tröpfeln zumindest – am ehesten bei monotonen Arbeiten, die die Hände beschäftigen, aber das Gehirn nicht beanspruchen, zum Beispiel beim Unkraut jäten oder Socken stricken. Nach der SCHNEETÄNZERIN-Trilogie muss in meiner Familie immerhin niemand mehr Sorge um kalte Füße haben.« (lacht)

In Ihrer Schneetänzerin-Saga IN ZEITEN DES STURMS hat die junge Anna trotz schwerer Verluste das große Glück, ihren Weg nicht allein gehen zu müssen. Welche der Figuren, die Anna begleiten, mögen Sie als Schöpferin besonders?«

Judith Nicolai: »Obwohl sie keine tragende Rolle spielt, ist mir Evelyn – das Mädchen, das im dritten Band meiner SCHNEETÄNZERIN-Saga gemeinsam mit Anna die Reise nach Boston antritt – besonders ans Herz gewachsen. Sie war eine der wenigen Figuren, von der ich von Anfang an ein ganz klares Bild vor Augen hatte. Ich mag ihre schnoddrige, spröde Art, hinter der sie ihre Verletzungen verbirgt. Deshalb musste Evelyn auch unbedingt ihr eigenes Happy End bekommen! Und natürlich habe ich eine kleine Schwäche für Captain Boyd …«

Das Gespräch führte Ronja Beck aus dem dotbooks-Lektorat.

Judith Nicolai wurde 1976 in Karlsruhe geboren. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie bereits mit 14 Jahren. Dennoch machte sie erst eine Ausbildung zur Buchhändlerin und studierte anschließend Gartenbauwissenschaften. Heute lebt sie in der Nähe von Karlsruhe.

Bei dotbooks veröffentlichte Judith Nicolai ihre Bestseller-Romane »Schneetänzerin«, »Das Herz der Schneetänzerin«, »Der Traum der Schneetänzerin«, »Die Frauen vom Schlehenhof« und »Die Töchter der Sturminsel«. Die drei Romane der »Schneetänzerin«-Saga sind auch im Sammelband »In Zeiten des Sturms« erhältlich. DIE FRAUEN VOM SCHLEHENHOF, die SCHNEETÄNZERIN-Saga und DIE TÖCHTER DER STURMINSEL von Judith Nicolai – überall erhältlich, wo gute eBooks angeboten werden, und natürlich auch auf unserer WEBSITE, wo die eBooks für Sie im Mobi-Format für den Kindle und als ePubs für alle anderen Lesegeräte bereitstehen.