»Gerade diese unerwarteten Erlebnisse, die mich auch an meine Grenzen brachten, zeigten mir das, was ich das ›wahre‹ Indien nenne.«

22. Juli 2022
dotbooks

Ein Gespräch mit unserer Bestsellerautorin Linda Holeman über den Zauber ferner Länder, ihre eigene aufgewühlte Familiengeschichte und die bewegenden Schicksale von Frauen, die trotz aller Widrigkeiten über sich selbst hinauswachsen:

Liebe Linda Holeman, in Ihren Bestsellerromanen zeichnen Sie die Welt im 19. Jahrhundert in eindringlichen Bildern nach – von den exotischen Basaren Indiens bis zum kühlen Glanz der Zarenwelt. Wie erwachen die Geschichten Ihrer Romane zum Leben?

Linda Holeman: »Es gibt zwei Wege, auf denen neue Geschichten zu mir finden. Zum einen, wenn ich plötzlich bildhaft eine Situation vor mir sehe, in der jemand ein einschneidendes Erlebnis hat, das den Rest seines Lebens prägen wird. Dann frage ich mich: Warum ist diese Frau – es sind immer Protagonistinnen bei mir – ausgerechnet an diesem Ort zu dieser bestimmten Zeit? Es ist stets ein Mysterium, das von mir ergründet werden will. Zum anderen kommen Ideen auch zu mir, wenn ich gerade voll und ganz in ein fremdes Land eintauche, sei es auf einer Reise oder auch in einem Buch. Mich beschäftigt stets, welchen Herausforderungen sich die Menschen, insbesondere Frauen, dort in früheren Zeiten stellen mussten. Und so nimmt eine Figur mehr und mehr Gestalt an – dabei weiß ich aber tatsächlich immer nur, was am Ende auf sie warten wird; was sie auf ihrem Weg dorthin erlebt und wie sie daran wächst, das ändert sich während des Schreibens ständig. Ich muss meine Figuren mit verschiedenen Situationen konfrontieren, um zu erfahren, wie sie damit umgehen und welche dieser Geschehnisse die Leser und Leserinnen miterleben müssen. Wenn ich ein Manuskript beende, habe ich daher meist das Gefühl, eher zwei Romane geschrieben zu haben. (lacht)«

In Ihrem Roman SMARAGDVOGEL nehmen Sie uns mit in das weite und farbenfrohe Indien und Kaschmir des 19. Jahrhunderts – sind Sie selbst schon einmal dorthin gereist? Woher rührt Ihre Faszination mit diesen Ländern?

Linda Holeman: »Glücklicherweise konnte ich in meinem Leben viel reisen. Das (und das Schreiben!) war immer schon immer ein Traum und eine Leidenschaft von mir. Meine Indienreise war dabei diejenige, die ich als die herausforderndste empfunden habe – sowohl körperlich als auch emotional. Indien ist wie kein Ort sonst auf der Welt: Jede Sinneswahrnehmung ist dort plötzlich geschärft, die Eindrücke sind ebenso lebendig wie kraftvoll. Ich wusste damals bereits, dass ich SMARAGDVOGEL schreiben wollte, und damit meine Protagonistin, die junge Engländerin Linny, ihr neues Leben dort voll und ganz annehmen kann, musste auch ich mich in dieses Land hineinfallen lassen – in den Duft, den Geschmack, die Landschaften. Ich durchreiste Indien und – wie das dort eben so ist – nichts verlief nach Plan oder Vorstellung. Aber gerade diese unerwarteten Erlebnisse, die mich auch an meine Grenzen brachten, zeigten mir das, was ich das ›wahre‹ Indien nenne. Obwohl Linny in SMARAGDVOGEL rund 200 Jahre vor meiner Zeit das Land bereist, findet auch sie dadurch viel über sich selbst heraus: Was sie selbst bewältigen kann, ohne dass sie es je für möglich gehalten hätte, und, wofür es sich zu kämpfen lohnt!«

Ihr historischer Roman DAS BERNSTEINHERZ spielt im glanzvollen Zarenreich des 19. Jahrhunderts und wir folgen einer jungen Adligen bei ihrem Kampf um Freiheit und Glück. Haben Sie eine persönliche Verbindung zu diesem Ort, dieser Zeit?

Linda Holeman: »Meine Großeltern väterlicherseits stammten aus Russland, mein Großvater aus St. Petersburg und meine Großmutter aus einem Dorf auf dem Land. Anfang des 20. Jahrhunderts wanderten sie nach Nordamerika aus und ließen sich in Kanada nieder. Die Kindheit meiner Großmutter war als Tochter armer russischer Bauern allerdings von Härte und Entbehrungen geprägt – ihre Erzählungen haben mich nie wieder losgelassen. Insbesondere ein Ereignis hat sich bei mir eingebrannt: Meine zehnjährige Großmutter war mit ihrem fünf Jahre alten Bruder auf einer Dorfstraße unterwegs, als eine Horde Männer – manchmal nannte meine Großmutter sie Kosaken, manchmal Tataren – auf Pferden vorbeigaloppierte. Hilflos musste sie mitansehen, wie die Männer ihren Bruder einfach hochrissen und mit sich nahmen. Sie hat ihn danach nie wieder gesehen. Ich wusste, dass ich dieses Erlebnis irgendwann in einen Roman einbinden würde – und genau damit beginnt DAS BERNSTEINHERZ, mit einem kleinen Jungen, der verschleppt wird. Nur ist es hier nicht die Schwester, die es mitansehen muss, sondern seine junge Mutter, die Protagonistin meines Romans.«

In Ihrem Roman DAS MONDAMULETT zeigen Sie den scharfen Kontrast zwischen dem farbenprächtigen Indien des 19. Jahrhunderts und England mit seiner starren Adelswelt und seinen westlichen Konventionen. Was war Ihnen bei der Recherche besonders wichtig?

Linda Holeman: »Mein Roman DAS MONDAMULETT war für mich eine besondere Herausforderung, da ich hierfür tatsächlich nicht vor Ort recherchieren konnte. Das Buch spielt zu großen Teilen im Afghanistan des 19. Jahrhunderts, also las ich alles, was ich zu diesem Land und seiner aufgewühlten Geschichte nur in die Finger bekommen konnte. Zum Beispiel auch eine Dissertation über afghanische Geburtstraditionen, die ich tief vergraben im Universitätsarchiv fand. Die Schönheit und wilde Einsamkeit ganzer Landstriche nahm mich bald gefangen bei meinem Schreiben – sei es das ebenso faszinierende wie gefährliche Reiterspiel Buzkaschi, das sich auf weiter Steppe ereignet, oder die Reise durch den Hindukusch – es fühlte sich so an, als wäre ich mittendrin, als würde ich selbst diese Leben leben. Und genau dieses Gefühl möchte ich mit DAS MONDAMULETT auch unbedingt meinen Leserinnen und Lesern vermitteln.

Viel einfacher war es dagegen für mich, über London zu schreiben, ganz gleich, welches Jahrhundert – das ist für mich sozusagen ein Heimspiel.«

In DER LOTUSGARTEN erzählen Sie die Geschichte von Pree, einer Missionarstochter, die von den rauen Bergwelten Pakistans bis zu den prächtigen Basaren Peschawars reist, um eine neue Heimat zu finden. Gibt es etwas, wozu Sie mit Ihrem Roman ermutigen wollen?

Linda Holeman: »Meine Romanideen beginnen meist mit Charakteren. Als ich ein Jahr in London verbrachte, begegnete mir zufällig der Begriff der ›Chutney Mary‹, der aus dem 19. Jahrhundert stammt. Dabei handelte es sich um Frauen in Indien, die sowohl indische als auch britische Wurzeln hatten, aber ihr indisches Erbe völlig ausklammerten. Das Leben als rein britische Frau, oder der Versuch dazu, eröffnete ihnen natürlich ganz andere Möglichkeiten. Dieser Gedanke, einen Teil von sich selbst zu verdrängen oder gar zu verleugnen, wühlte mich auf und faszinierte mich auch gleichzeitig. So entstand die Idee zu Pree, die in DER LOTUSGARTEN als Tochter von britischen Missionaren aufwächst und schließlich erfährt, dass alles, was sie über ihre Herkunft zu wissen glaubte, eine Lüge ist. Sie muss, wie alle meine Romanheldinnen, ihre innere Stärke finden – nicht nur, um zu überleben, sondern auch, um niemals aufzugeben und sich ein besseres Leben zu erkämpfen. Meine leise Hoffnung ist immer, dass die Leserinnen und Leser meiner Romane ebenfalls etwas von dieser Stärke in sich entdecken und darin Zuversicht finden – oder auch einfach stolz darauf sind, was sie alles schon gemeistert haben.«

Gibt es ein bestimmtes Buch, das Sie zum Schreiben von Romanen inspiriert oder bereits Ihr ganzes Leben lang begleitet hat?

Linda Holeman: »Es gibt zu viele wunderbare Bücher, um nur eins auszuwählen. Immer wieder bin ich fasziniert, wie es Autoren und Autorinnen gelingt, auf neue Weise Magie zu erschaffen – denn ein guter Roman ist für mich nichts anderes. Als Kind las ich alles, was ich in die Finger bekommen konnte; ein einschneidendes Erlebnis war für mich aber eindeutig ›Das Tagebuch der Anne Frank‹, als ich zwölf Jahre alt war. Ich habe es in einem Rutsch durchgelesen und nach dem Zuklappen sehr lange einfach nur dagesessen. Für mich hatte sich damit eine völlig neue Welt eröffnet: Obwohl ich das mit Sicherheit damals nicht so klar benennen konnte, war es für mich der Schritt in eine erwachsenere Welt, wo Gut und Böse plötzlich klare Gestalt angenommen hatten. Ich dachte auch viel über das Aufzeichnen von (Lebens-)Geschichten nach. Vorher hatte ich in meinen Tagebüchern nur geschrieben, ›was‹ ich tat, dabei war doch das Gefühl, das ich dabei hatte, viel wichtiger. Bis heute wirkt das in mir nach und hat mit Sicherheit viel dazu beigetragen, dass ich in meinen Romanen über Frauen schreibe, die in längst vergangenen Zeiten leben – doch die Gefühle, die wir mit ihnen teilen, gewinnen darum nur umso mehr an Nähe und Eindringlichkeit.«

Das Gespräch führte Ronja Beck aus dem dotbooks-Lektorat.

Linda Holeman, geboren im kanadischen Winnipeg, arbeitete nach ihrem Studium der Soziologie und Psychologie zunächst zehn Jahre als Lehrerin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Ihrem ersten Roman »Smaragdvogel« folgten zahlreiche weitere historische wie auch zeitgenössische Romane, die internationalen Bestsellerstatus erlangten und in sechzehn Sprachen übersetzt wurden. Heute lebt Linda Holeman abwechselnd in Toronto und Santa Monica, Kalifornien.

Bei dotbooks veröffentlichte Linda Holeman ihre Romane DAS BERNSTEINHERZ, SMARAGDVOGEL, DAS MONDAMULETT und DER LOTUSGARTEN.

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