»Meine Lieblingsszene? Der von Flammen blutrot gefärbte Nachthimmel über London, als Lilli auf der Suche nach einem Opfer nach Whitechapel aufbricht.«
Ein Gespräch mit unserer Autorin Ursula Neeb darüber, was sie inspirierte, in ihrem Roman DER HÖLLE ZORN neues Licht auf die Rätsel um den berüchtigten Serienmörder Jack the Ripper zu werfen, warum ihre Protagonistin Lilli ebenso fasziniert wie schockiert, und welche Rolle Alfred Hitchcock bei dem Ganzen spielt.
Liebe Ursula Neeb, Ihr Roman DER HÖLLE ZORN rollt die Mythen, die sich um die Identität von Jack the Ripper ranken, auf überraschende Weise neu auf. Wie haben Sie zu diesem Thema gefunden?
Ursula Neeb: »Bei der Recherche für einen neuen Romanstoff stieß ich im Zusammenhang mit dem berüchtigtsten Serienmörder aller Zeiten auf die bahnbrechende neue Forschungsthese, dass es sich bei Jack the Ripper um eine Frau gehandelt haben soll – eine Adlige der viktorianischen Gesellschaft! Ich war brennend interessiert und besorgte mir sogleich John Morris‘ Sachbuch ›Jack the Ripper – The Hand of a Woman‹. Ich fand seine These, dass Lizzie Williams, die Frau des Gynäkologen Dr. John Williams, die Morde begangen haben könnte, sehr plausibel und war bald lichterloh entflammt für das Thema. Mich interessierte vor allem das Innenleben dieser Lady aus dem vornehmen Londoner Westend, ihre Biographie und Sozialisation – verbunden mit der Frage, wie Lizzie Williams zu jenem menschlichen Monster der schrecklichsten Ausprägung werden konnte.«
Gibt es einen Punkt, in dem Sie mit den neuen Forschungsthesen hadern?
Ursula Neeb: »John Morris geht in seinem Sachbuch von der These aus, Lizzie Williams habe die Morde aus Wut über ihre eigene Unfruchtbarkeit und aus Eifersucht begangen, da ihr notorisch untreuer Ehemann eine Liebschaft mit einer Prostituierten gehabt hätte, die angeblich sogar ein Kind von ihm erwartete. – Was mich nicht restlos überzeugte, wie ich zugeben muss! Wut und Eifersucht als Mordmotive, gut und schön, aber bei weitem nicht ausreichend für die unglaubliche Bestialität, mit der die Opfer getötet und nach ihrem Tod noch hergerichtet wurden. Jack the Ripper war ein Sadist, darin sind sich die Experten einig! Für meinen Roman stellte ich mir also die Frage: Was hat diese Frau im Innersten angetrieben? Ist die Wurzel für das Böse in ihr vielleicht schon in ihrer Kindheit zu finden? Dass Jack the Ripper einmal ein unschuldiges Kind gewesen sein soll, ist sicherlich schwer zusammenzubringen – und gerade deshalb fühlte ich mich herausgefordert, so tief wie möglich in den Abgrund seiner Seele hinabzusteigen.«
Wo bewegen Sie sich in Ihrem Roman also zwischen Fakten und Fiktion?
Ursula Neeb: »Im Wesentlichen habe ich versucht, eine gesunde Mischung zu finden. Lizzie Williams heißt in meinem Roman Lilli Wilson, viele Eckpunkte im Leben der beiden stimmen aber überein. So hatte auch Lizzie Williams unmittelbar nach dem letzten verbürgten Ripper-Mord einen schweren Nervenzusammenbruch. Sie wurde von ihrem Ehemann unter die Obhut eines Krankenpflegers namens Edward R. Morgan gestellt. Mein Protagonist, der Irrenhauswärter Mathew Morgan, ist in Anlehnung an ihn entstanden. Die Unterbringung meiner Protagonistin im Bethlem Royal Hospital ist allerdings ebenso fiktiv wie das Tagebuch, das sie ihrem Pfleger kurz vor ihrem Tod vermacht.
Ein weiterer Fakt ist, dass Lizzie Williams ihrem Mann tatsächlich bei Operationen und Schwangerschaftsabbrüchen assistierte und sich dabei so geschickt verhielt, dass er geäußert haben soll, an ihr wäre ein Chirurg verloren gegangen. Die darauffolgenden Morde wurden von mir detailgetreu den Polizeiakten entnommen, wie auch die Zeugenaussagen und äußerst rätselhaften Umstände des letzten Mordfalls.«
Ihr Roman besticht durch unheimlich kraftvolle, eindringliche Szenen – haben Sie selbst eine Lieblingsszene?
Ursula Neeb: »Gleich mehrere! Die Szene der ersten Begegnung zwischen der jungen Lilli und ihrer Gouvernante Miss Beaver, die ebenfalls eine Psychopathin ist – wenn auch in abgemilderter Form. Hier erkennt ein Wolf den anderen und fordert seinen Seelenverwandten zu einem atemberaubenden Tanz auf. Eine Art Sternstunde für Lillis Werdegang!
Auch die Szene während des Großbrands in den Hafendocks beschert mir so lange nach dem Schreiben noch Gänsehaut: Der von Flammen blutrot gefärbte Nachthimmel über London, als Lilli auf der Suche nach einem Opfer nach Whitechapel aufbricht.
Und schließlich die Szene, in der Lilli beinahe gefasst wird: Nach einer weiteren Mordnacht verlässt sie im nebligen Morgengrauen das Haus ihres Opfers – dafür ist sie in die Kleidung der Frau geschlüpft, die sie gerade getötet hat. Ein fataler Fehler, wie es scheint, als eine Freundin des Opfers sie von der gegenüberliegenden Straßenseite her anspricht. Für die Mörderin eine Schrecksekunde von höchster Gefahr, doch Lilli, dieses menschliche Chamäleon, zieht sogleich alle Register ihres Könnens und schlüpft mit atemberaubender Kaltschnäuzigkeit in die Rolle ihres Opfers.«
Was war Ihnen bei der Figurenzeichnung der legendären Mörderin wichtig?
Ursula Neeb: »Besonders interessant war für mich bei der Recherche ein fundiertes Profiling über Jack the Ripper, das der Chef-Profiler des FBI, John Douglas, anhand von Polizeiakten entwickelte. Es charakterisiert Jack the Ripper als jemanden, der Frauen hasste, gleichzeitig aber auch eine bizarre, krankhafte Neugier auf den weiblichen Körper gehabt haben muss. Sein erklärtes Ziel müsse es außerdem gewesen sein, die Straßen Londons von menschlichem Abschaum zu reinigen – weshalb er von selbst wohl auch nie aufgehört hätte zu morden; ein äußerer Umstand müsse eingetreten sein, der es ihm unmöglich machte.
Auf Basis dieser Einschätzung und weiterer Forschungsartikel entwickelte ich mein eigenes Profiling für Lizzie, die in meinem Roman Lilli heißt. Ihre gefährliche Persönlichkeitsstörung manifestiert sich in DER HÖLLE ZORN bereits im Kindesalter: Grundlegende Gefühle wie Furcht, Trauer, Angst oder Freude sind ihr fremd. Sie ist ein unbarmherziges Raubtier und nutzt ihr feines Gespür für die Schwächen ihrer Mitmenschen, um sie zu manipulieren. Getrieben von der kalten Empathie einer Jägerin streift sie viele Jahre später durch Whitechapel. Erst beim Töten kann sie sich entspannen, eine für Serienmörder typische Störung der Neurochemie. Hinzu kommen Lillis puritanische und lustfeindliche Erziehung und die Hetzschriften des Hurenhassers William Acton, die sie verinnerlicht – insbesondere, nachdem sich ihre geliebte Gouvernante als ›verkommen‹ entpuppt.«
Konnten Sie Ihre ebenso schauderhafte wie charismatische Protagonistin nach einer Schreibepisode wieder loslassen?
Ursula Neeb: »Lilli Wilson ist mein Geschöpf, genauso wie Hannibal Lecter das Geschöpf von Thomas Harris ist. Irgendwie mag man sie, obwohl oder gerade WEIL sie so abscheulich sind. Der Kriminalpsychologe Stephan Harbort spricht hier treffend von der Faszination des Abscheulichen … der ich bereits im Alter von zwölf Jahren unterlag, als ich mich gemeinsam mit einer Freundin in eine Filmvorführung von Hitchcocks PSYCHO schmuggelte. Wir wollten eigentlich nur Schabernack treiben, doch das Lachen blieb uns förmlich im Halse stecken. Seitdem bin ich Hitchcock-Fan, der beruflich mein großes Vorbild ist. Alfred Hitchcock hat einmal gesagt, dass ein Film immer so gut sei wie sein Schurke – das ist eine Maxime für mich. Ich hoffe, dass es mir in Bezug auf Lilli gelungen ist!«
Das Gespräch führte Ronja Beck aus dem dotbooks-Lektorat.
Ursula Neeb wurde 1957 in Bad Nauheim geboren und studierte Geschichte, Kulturwissenschaft und Sozialpsychologie in Frankfurt am Main. Aus der Idee für ihre Doktorarbeit über verfemte Berufe im Mittelalter entstand ihr erster Roman. Nachdem Ursula Neeb viele Jahre für das Deutsche Filmmuseum und für die Frankfurter Allgemeine Zeitung tätig war, lebt sie seit 2005 als freie Autorin im Taunus und veröffentlichte bereits zahlreiche historische Kriminalromane in renommierten Verlagen. Ihre Faszination mit menschlichen Abgründen und Alfred-Hitchcock-Klassikern inspirierte sie zu ihrem Roman DER HÖLLE ZORN.
Die Autorin im Internet: www.facebook.com/ursula.neeb.1
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