»WIR ALLE HABEN DIESEN BLINDEN FLECK, WENN ES UM FAMILIE GEHT.«
Ein Gespräch mit Stefanie Koch über den Suchtfaktor von Serien, menschliche Abgründe und ihre Krimireihe rund um Kommissar Lavalle.
Liebe Stefanie, nach dem Erfolg deiner drei ersten Kriminalromane um Kommissar Lavalle hast du deine Leser ganz schön lange auf die Fortsetzung warten lassen – wie hat es sich angefühlt, Lavalle und seinem Team nach all den Jahren wieder zu begegnen?
Stefanie Koch: »Wie ein Treffen mit engen Freunden, die man für eine gewisse Zeit aus den Augen verloren hat, aber die alte Vertrautheit ist sofort wieder da. Viele Leserinnen und Leser schreiben mir, die Figuren in meinen Lavalle-Krimis wären so lebendig, dass man sich eigentlich nicht vorstellen kann, es gäbe sie nicht. Das ist ein tolles Kompliment – es kostet aber natürlich auch viel Kraft, diese Figuren so authentisch entstehen zu lassen. Ich meine, die sind alle in meinem Kopf, ich weiß wie sie gehen, wie sie lachen, welche Eigenheiten sie haben … früher wäre ich damit wahrscheinlich in der Irrenanstalt gelandet.« (lacht) »Aber deswegen freue ich mich auch so darüber, die Geschichte von Henri Lavalle, Ann Stahl und all den anderen jetzt weitererzählen zu können.«
Warum mögen deine Leserinnen und Leser Lavalle so?
Stefanie Koch: »Henri Lavalle ist ein Mann mit Ecken und Kanten. In seinem Leben läuft einiges durcheinander und er hat längst nicht für alles eine Lösung. Trotzdem ist er nicht düster, einsam und frustriert, sondern liebt das Leben und den Genuss. Er hat Charme, trinkt Pastis und geht Risiken ein. Und vor allem ist er kein abgebrühter Superbulle, kein schicksalsgeprüfter Melancholiker: Lavalle gefällt meinen Leserinnen und Lesern deswegen so gut, weil er ›einer von uns‹ ist.«
In seinem ersten Fall, IM HAUS DES HUTMACHERS, bekommt es Kommissar Lavalle mit der Tochter eines Mordopfers zu tun – eine kalte und zunächst wenig sympathische Frau. Was hat dich an Ann Stahl gereizt?
Stefanie Koch: »Ich wollte eine Figur schaffen, die Kommissar Lavalle verunsichert und irritiert, eine, die nicht in Schubladen passt und mal reizend und mal erschreckend kalt ist. Ann Stahl ist eine perfekte Gegenspielerin für Lavalle, weil sie sein Frauenbild gründlich durchrüttelt.«
In DIE KARTE DES TODES gerät Kommissar Lavalle selbst ins Visier eines Verbrechers. Was hat dich daran gereizt?
Stefanie Koch: »Wir alle haben diesen blinden Fleck, wenn es um unsere Familie oder engen Freunde geht. Wir sehen das, was direkt vor uns passiert, manchmal überhaupt nicht. Unsere Tochter ist in der Pubertät, ein Kollege stänkert über uns, ein reicher Düsseldorfer besorgt seinem Sohn ein Praktikum – klingt alles nicht alarmierend. Aber wenn diese Ereignisse nicht mehr für sich stehen, sondern miteinander zu tun haben, spinnt sich ein Netz des Grauens – und davon erzähle ich in DIE KARTE DES TODES.«
Jeder Krimi braucht ein spannendes Setting – für DIE STUNDE DER ARTISTEN hast du dir ein ganz besonderes ausgesucht: Den Mikrokosmos eines Varietés. Wie kam es dazu?
Stefanie Koch: »Lavalle geht regelmäßig dorthin, das real existierende Apollo Varieté ist einer seiner Lieblingsplätze, wenn er nachdenken muss. Artisten sind die wahren Kosmopoliten unserer Welt: Sprechen viele Sprachen, sind immer wieder in anderen Ländern zu Gast und zu Hause. Es ist leicht, sie als ›fahrendes Volk‹ zu verklären und zu romantisieren, aber damit wird man ihnen nicht gerecht. Lavalle steht vor einer Welt, von der er dachte, er kennt sie – und muss während der Ermittlungen feststellen, dass sie ihm völlig fremd ist. Artisten haben ihren eigenen Regeln. Und es ist ein besonderes Vergnügen, darüber zu schreiben … und darüber zu lesen.«
In DER KOPF DER SCHLANGE wartet eine besondere Herausforderung auf Kommissar Lavalle: Seine Töchter geraten in große Gefahr – und er muss sich noch dazu fragen, ob er die Frau, die er liebt, wirklich kennt. Hast du eine sadistische Beziehung zu deiner Hauptfigur?
Stefanie Koch: »Bei meinen Kriminalromanen liegt die Betonung sowohl auf ›Krimi‹ als auch auf ›Roman‹. Die Figuren entwickeln sich über den Rahmen der klassischen Ermittlungshandlung heraus wie lebendige Menschen. Zunächst ermittelt Lavalle, der nach seinem letzten Fall zum BKA gewechselt ist, in einem Mord, der politisch zu sein scheint. Er trifft auf ein Spezialistenteam vom LKA, bestehend aus Computerforensik, Hackern, den besten Gerichtsmediziner und einer knallharten Kommissarin. Die haben Ermittlungsmöglichkeiten, auch bedingt durch weitreichende Kompetenzen, die für Lavalle ein Traum sind. Bis sich das dann in einen Alptraum verwandelt, weil Dinge über seine große Liebe ans Licht gebracht werden, die ihn zweifeln lassen, ob er diese Frau überhaupt kennt. Das ist ein Dilemma, das jeder von uns sicher schon in seinem Leben erfahren hat: Wem glaube ich, meinem Gefühl oder den Fakten? Kann das alles überhaupt wahr sein, was ich bisher erlebt und gefühlt habe? Das hat nichts mit dem Sadismus einer Autorin zu tun, das ist das Leben! Und deswegen reizt es mich so, darüber zu schreiben.«
Du hast bisher vier Kriminalromane über Kommissar Lavalle und seine Ermittlungen geschrieben. Hand auf’s Herz: Welcher der Fälle gefällt dir selbst am besten?
Stefanie Koch: „IM HAUS DES HUTMACHERS. Denn es ist auch das Psychogramm zweier Familien, die nach außen hin wie alle anderen scheinen. Mir ist bei allen meinen Büchern wichtig, dass nicht nur die Geschichte sich weiterentwickelt und den Leser weiterträgt, sondern auch die Charaktere Schritte gehen, die sie für die Leser interessant machen. Man möchte von Anfang an wissen, was wird jetzt aus Ann Stahl und Henri Lavalle und warum hasst ein überkorrekter Kollege diese Frau? Und dass alles auch mit der Aufklärung des Falles zu tun hat, macht es zu einem spannenden Kriminalroman.
Die stärksten Krimielemente hat indes DIE KARTE DES TODES. Die Ermittlungen stehen hier im Vordergrund, es geht ein wenig Richtung Psychothriller, da Lavalle – ohne es zu bemerken – seine Familie in Gefahr bringt. Aber auch in diesem Kriminalroman darf er wieder seine unkonventionelle Seite zeigen, denn er zieht in das Haus seiner Ex-Schwiegermutter ein.
Sehr reizvoll zu schreiben war für mich DIE STUNDE DER ARTISTEN, die Lavalle aus der deutschen Welt von Recht und Gesetz in eine andere Welt führt, und direkt vor seiner Nase und ohne, dass er wirklich eingreifen kann, trifft auf das weltumspannende Netz der Artisten, die ihre ganz eigenen Regeln haben und Lavalle lange prüfen, bevor sie ihn einweihen. Und obwohl Lavalle an Recht und Gesetz glaubt, muss er am Ende einsehen, dass es ihm nicht auf seine Weise gelingt, den Täter zur Verantwortung zu ziehen.
DER KOPF DER SCHLANGE ist eigentlich ein Auftakt zu einer neuen Serie: Natürlich ermittelt immer noch Kommissar Lavalle, natürlich gibt es immer noch Ann Stahl und seine Ex-Schwiegermutter, aber davon abgesehen hat er es nun mit neuen, außergewöhnlichen Spezialisten des LKA zu tun. Es ist ein Vergnügen, ihnen bei der Arbeit zuzusehen, dieses Team hat das Ermittlungstempo, das die modernen IT-Möglichkeiten bietet. Schon das macht den Fall rasant. Und darüber hinaus liebe ich es, wenn einer meiner Charaktere ist einem Dilemma steckt – kann Lavalle der Frau, die er so sehr liebt, wirklich trauen – und bin beim Schreiben selbst neugierig, wie er da jetzt wieder rauskommt.«
Worin liegt für dich als Autorin der Reiz, eine Krimiserie zu schreiben statt lauter Einzelromanen?
Stefanie Koch: »Weil ich es mag, wenn die Figuren sich entwickeln können, über einen Fall hinaus. Auf einer Lesung für den dritten Lavalle-Krimi DIE STUNDE DER ARTISTEN sagte mir ein Fan: ›Ich kaufe ihn vor allem, weil ich die Figuren wiedertreffen will, weil ich wissen will, wie das weitergeht im Haus der Schwiegermutter, mit Ann Stahl …‹ So geht es mir auch. Während ich schreibe, lebe ich mit meinen Figuren in einer Wohngemeinschaft. Ich schlafe mit ihnen ein, wache mit ihnen auf, träume von ihnen, weiß, was sie gern essen und wo sie hingehen, wenn sie traurig sind. Ist ein Kriminalroman zu Ende, ist das so, als würden alle aus der WG ausziehen, nur ich nicht. Dann ist es auch für mich als Autorin ganz schön, wenn die nur auf Urlaub waren und wieder zurückkommen. Der fünfte Fall für Lavalle nimmt in meinem Kopf bereits konkrete Formen an, und ich schätze, jede Leserin, jeder Leser wird sich wünschen, er wäre schon fertig, wenn sie oder er die letzte Seite von DER KOPF DER SCHLANGE gelesen hat. Gute Serien machen süchtig, das gilt für Leserinnen und Leser genauso wie für mich als Autorin.«
Das Interview führte Timothy Sonderhüsken, Programmleiter dotbooks.
Stefanie Koch, geboren 1966 in Wuppertal, studierte in Frankreich, arbeitete in Italien, Thailand und Bangkok und lebt heute in Düsseldorf, wo sie unter anderem als Datenschutzbeauftragte in einem Stromkonzern tätig ist. Seit 2003 veröffentlicht sie erfolgreich Thriller und Kriminalromane, sowohl unter ihrem echten Namen als auch unter dem Pseudonym Mia Winter.
Die Autorin im Internet: www.stefanie-koch.com
Bei dotbooks erschienen bereits Stefanie Kochs Thriller »CROSSMATCH – Das Todesmerkmal«, der rabenschwarze Kurzroman »TRULLA – Mord ist immer eine Lösung« sowie die vier Kriminalromane rund um den Düsseldorfer Kommissar Lavalle:
„KOMMISSAR LAVALLE – Der erste Fall: Im Haus des Hutmachers«
»KOMMISSAR LAVALLE – Der zweite Fall: Die Karte des Todes«
»KOMMISSAR LAVALLE – Der dritte Fall: Die Stunde der Artisten«
»KOMMISSAR LAVALLE – Der vierte Fall: Der Kopf der Schlange«