Wolfgang Jaedtke im Interview

17. August 2018
dotbooks

„Ein Mann, der alles Weibliche verachtet, ist voller Furcht und innerlich zerrissen“

Ein Gespräch mit Wolfgang Jaedtke über den ewigen Konflikt zwischen den Geschlechtern, starke Frauenfiguren und seine Saga STEPPENWIND.

Die meisten erfolgreichen historischen Romane spielen im Mittelalter – Sie haben sich für Ihre STEPPENWIND-Trilogie die Antike ausgesucht und mit den Steppen des Ostens noch dazu einen auf den ersten Blick wenig einladenden Handlungsort …

Wolfgang Jaedtke: „Wenig einladend auf den ersten Blick – das mag sein. Man muss es vielleicht mit eigenen Augen gesehen haben: die grenzenlose Weite, das rauschende Gras, die rasch ziehenden Wolken – wie all das die Seele beflügelt und zur Wanderschaft drängt, dem Horizont entgegen und darüber hinaus. Genau das empfanden die Steppenvölker: eine berauschende Freiheit, die zum Weiterziehen, zum Erkunden und Entdecken drängt, wie ein weites Meer, auf dem man ferne Küsten ansteuert. Gewiss ist es eine wilde, urtümliche Landschaft, aber gerade ihre Kargheit öffnet den Blick zum Himmel und in die fantastische Ferne unbekannter Welten.

Wir machen uns selten bewusst, dass in diesen Steppen wichtige Wurzeln unserer ‚westlichen‘ Kultur liegen. Heute nimmt man an, dass die indoeuropäische Sprachfamilie aus dem Osten stammt, und dass unsere Vorfahren, aus denen die meisten Völker Europas hervorgingen, in den Steppen zwischen Wolga und Ural gelebt haben. Ihr Zug nach Westen war nicht nur in ihrer Mobilität als Nomaden begründet, sondern auch in den naturräumlichen Gegebenheiten: Richtung Westen wird die Steppe grüner und fruchtbarer, und dies lenkte die Steppenbewohner über das Donau-Tal bis nach Siebenbürgen und in die ungarische Puszta, wo sie sesshaft wurden und ihre Kultur über ganz Europa verbreiteten. Darum sind auch wir – letztlich – Kinder der Steppe. Von dort kamen maßgebliche Einflüsse nach Europa: Nicht nur die Sprache; auch die Waffentechnik, die Tierbilder-Kunst, das Tragen von Hosen, das Errichten von Grabhügeln, die Milchwirtschaft (und damit die Laktose-Toleranz), nicht zuletzt natürlich das Pferd als Reittier.

Doch noch etwas Wichtiges kam mit den Einwanderern: Der Glaube an einen männlichen Himmelsgott, zusammen mit seiner gesellschaftlichen Entsprechung, dem Patriarchat. Alle Steppenvölker – von den frühesten Indogermanen über Skythen, Alanen und Hunnen – glaubten an einen Himmelsherrscher, den Gott der Stürme und des Krieges, der ihre Eroberungszüge lenkte. Die STEPPENWIND-Trilogie handelt von der Entstehung dieses Patriarchats und vom Konflikt zwischen den Geschlechtern, der von Anfang an auch ein Konflikt zwischen bäuerlich-sesshaften Kulturen und kriegerischen Steppenreitern war und die Verehrung der Großen Mutter Erde durch den Glauben an den Himmelsvater ablöste. Für dieses Thema konnte ich mir keinen besseren Rahmen denken als den Zusammenprall beider Kulturen an den östlichen Grenzen Europas. Was dort geschah, und was von dort zu uns, über uns kam, prägt Europa bis heute.“

In SOHN DER STEPPE erleben wir hautnah mit, wie ein Waisenjunge fast zum Menschenopfer einer Priesterin wird und zu einem Mann heranwächst, der mit aller Kraft gegen das Matriarchat ankämpft. Was hat Sie daran fasziniert – und was sagt dieser Kampf Ihrer Meinung nach über die ewigen Konflikte, die es auch heute noch zwischen Männern und Frauen gibt, aus?

Wolfgang Jaedtke: „Genau das war mein Thema: Die Art und Weise, wie das Patriarchat aus einer tiefen Angst der Männer vor den Frauen entspringt. Für heutige Menschen – nach zweitausend Jahren Patriarchat – ist das nicht mehr leicht nachvollzuziehen. Umso mehr reizte mich der Versuch, es nahvollziehbar zu machen, und zwar an einem ‚Helden‘, den man eigentlich schwer sympathisch finden kann, mit dem man aber dennoch mitfühlt. Der Mann, der alles Weibliche verachtet, ist eben kein selbstzufriedener Pascha, sondern voller Furcht und innerlich zerrissen. Er bekämpft nicht nur die Macht der Frauen, sondern – was viel verhängnisvoller ist – auch das Weibliche in sich selbst: Er glaubt, sich ständig beherrschen zu müssen, keine Gefühle zulassen zu dürfen, und agiert diese Selbstbeherrschung symbolisch als Herrschaft über das weibliche Geschlecht aus. Für ihn repräsentiert es, unbewusst, das Triebhafte und Chaotische, das kontrolliert und unterworfen werden muss.

Nicht zufällig entstanden alle Religionen, die den Mann über die Frau stellen, unter Steppen- und Wüstennomaden: Wo kein Ackerbau getrieben wird, fühlt man(n) sich nicht mit der Erde verbunden; stattdessen besteht die Basis der Existenz in Jagd und Krieg, also traditionell ‚männlichen‘ Verrichtungen. Das fördert fatal den Glauben an die männliche Überlegenheit. Der Steppen-Patriarch betrachtet seine Rinder und Schafe als seinen Besitz, der bewacht und durch Züchtung vermehrt werden muss – und genauso verhält er sich den Frauen gegenüber, die zu eifersüchtig gehüteten Brutmaschinen werden. Das alles ist aber kein Ausfluss einer genuinen männlichen ‚Bosheit‘, sondern vielmehr – wie ich in SOHN DER STEPPE zeige – eines heimlichen Unterlegenheitsgefühls, einer Furcht des Mannes vor dem Weiblichen.

Warum diese Furcht? Ganz einfach: Nur Frauen bringen Leben hervor; jeder Mann wird von einer Frau geboren und ist jahrelang von ihr abhängig, und auch im späteren Leben üben Frauen, durch Liebe und Sexualität, eine beinahe magische Macht über ihn aus. Meine Figur Artan, der zum Menschenopfer auserkorene Waisenjunge, erlebt dieses Gefühl der totalen Unterlegenheit in massiver Verdichtung, und folgerichtig wird er zum ersten militanten ‚Frauenfeind‘, mit all der innerlichen Zerrissenheit, die dazugehört.“

TOCHTER DER STEPPE erzählt von Manja, die von einem zunächst eher hilflosen Mädchen zu einer starken Kriegerin heranwächst. Was fasziniert Sie an dieser Figur? Und sehen Sie Parallelen zu starken Frauenfiguren, wie sie heute das Kino bevölkern – WONDER WOMAN, um nur eine zu nennen?

Wolfgang Jaedtke: „Ich gestehe gern meine Bewunderung für starke Frauen, sei diese Stärke nun kämpferisch-amazonisch oder geistig-intellektuell. Für mich war von Anfang an klar, dass dem Patriarchat in meiner Romanserie eine Gegenkraft erwachsen musste, und dafür war Manja prädestiniert. Mütterlicherseits stammt sie aus einer Bauernkultur, doch von ihrem Vater hat sie die kämpferische Seite, die im Kontakt mit dem Steppenvolk der Sarmaten zum Vorschein kommt. Dieses außergewöhnliche Volk zeichnete sich dadurch aus, dass bei ihnen eine weitgehende Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern herrschte und Frauen Kriegerinnen werden konnten, was nach heutiger Vermutung der Schlüssel zur griechischen Amazonen-Sage ist. Nichts schien mir den Geschlechterkonflikt besser abbilden zu können als der Krieg zwischen den Sarmaten und den streng patriarchal organisierten Skythen.

Manja gelingt, was ihren Eltern noch nicht gelang: Die glücklichere innere Vermittlung zwischen den verfeindeten Welten. Als furchtlose Kriegerin ist sie die Erbin ihres Vaters und integriert diese ‚männliche‘ Seite in ihre Persönlichkeit – während ihr Vater daran scheiterte, seine weibliche Seite zu akzeptieren. Deshalb ist Manja nicht nur eine starke Frau, sondern zugleich ein Modell für gelungene Persönlichkeitsentwicklung, die immer – in jedem von uns – die Einbeziehung der gegengeschlechtlichen Anteile voraussetzt. Der Konflikt zwischen den Geschlechtern kann nur im Innern jedes Einzelnen aufgelöst werden, und dafür steht Manja Modell.“

Neben den Abenteuern, die Ihre Heldin Manja in HERRIN DER STEPPE bestehen muss, spielt auch die Frage nach Schuld, Trauer und Vergebung eine wichtige Rolle. Was fasziniert Sie an diesen Themen?

Wolfgang Jaedtke: „Es sind einfach die entscheidenden Themen im menschlichen Leben. Im Märchen endet alles mit ‚und sie heirateten und lebten glücklich …‘ – das war mir zu wenig. Wer schon ein paar Jahrzehnte Leben hinter sich hat, der weiß, dass mit diesem Märchenschluss die Geschichten eigentlich erst anfangen. Liebe muss nicht nur errungen, sondern auch erhalten, gepflegt, umkämpft, erneuert werden; sie ist die Voraussetzung für gemeinsame Entwicklung, nicht das Ende der Entwicklung. Und der Liebe zu folgen – wie Manja es tut – impliziert fast unausweichlich, zu trauern, Verluste zu tragen, unter Umständen auch zu scheitern. Das Wagnis, dennoch seiner Bestimmung zu folgen, geht Manja ein – und erst dies verschafft ihr die Größe, zur HERRIN DER STEPPE zu werden. Schuld und Vergebung gehören ebenfalls dazu, denn es ist unmöglich, perfekt zu sein; unmöglich zu leben, ja sogar unmöglich zu lieben, ohne zu verletzen und Schuld auf sich zu laden. Vergebung ist daher lebensnotwendig – und dass Manja am Ende demjenigen vergeben kann, der einst ihre Vorfahren tötete, ist Voraussetzung für die Rückbesinnung auf ihre eigene Kraft.“

Man kann die Romane der STEPPENWIND-Trilogie auch einzeln lesen, aber der große Handlungsbogen erschließt sich natürlich erst, wenn man sie alle in der chronologischen Reihenfolge gelesen hat. Haben Sie trotzdem einen Lieblingsroman innerhalb der Saga?

Wolfgang Jaedtke: „Eigentlich nicht; ich schwanke ständig. Hinzu kommt, dass ich zunächst nur die ersten beiden Romane veröffentlichten konnte und der dritte und abschließende Teil der Saga, HERRIN DER STEPPE, nun erstmals bei dotbooks im eBook erschienen ist. In der Lesergunst dürfte daher bisher TOCHTER DER STEPPE voranstehen, was nicht erstaunlich ist, da wir es hier mit einer Heldin zu tun haben, die man einfach lieben muss. Dennoch habe ich mir immer eine gewisse Vorliebe für den ersten Teil bewahrt, SOHN DER STEPPE, gerade weil die Einfühlung in den gebrochenen Charakter Artans uns modernen Lesern eine Menge abverlangt. Andererseits ist auch HERRIN DER STEPPE wiederum ein Herzblut-Titel für mich, weil sich hier der Kreis schließt, und zwar durch Versöhnung – oder, wie man eigentlich sagen müsste: Vertöchterung. Alles in diesem letzten Teil ist für mich tief bewegend, die Trauer ebenso wie der Triumph. Wem es gelänge, dasselbe wie Manja zu erreichen – Stärke durch Vergebung, Erneuerung durch Trauer, Sieg durch die Fähigkeit zum Tragen von Niederlagen – dessen Leben würde ich als gelungen betrachten.“

Das Gespräch führte Timothy Sonderhüsken, Programmleiter von dotbooks.

Wolfgang Jaedtke, geboren 1967 in Lüneburg, studierte Historische Musikwissenschaft und promovierte mit einer Arbeit über Beethoven. Danach arbeitete er für ein Theater, bevor er sich als Schriftsteller selbstständig machte und seitdem unter seinem eigenen Namen und Pseudonymen Romane aus den verschiedensten Genres veröffentlicht.

Bei dotbooks erschienen bereits Wolfgang Jaedtkes historischer Roman DIE TRÄNEN DER VILA sowie die STEPPENWIND-Saga: SOHN DER STEPPE, TOCHTER DER STEPPE und HERRIN DER STEPPE – überall erhältlich, wo gute eBooks angeboten werden, also zum Beispiel auch auf unserer Website, wo das eBook für Sie als Mobi-Datei für den Kindle und als ePub-Datei für den Tolino und alle anderen Lesegeräte bereitsteht.