Carlotta Mink und der Meister aus der Gesamtausgabe

19. Februar 2015
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Carlotta Mink (c) privat

Carlotta Mink (c) privat

Ich entschloss mich zu schreiben, als mein Sohn zwei Monate alt war. Während ich ihm die Flasche gab, hatte ich Zeit, mir Geschichten auszudenken, die ich später, wenn er schlief, in den Computer hackte und ausdruckte.

Natürlich hatte ich ein Vorbild: Anton Čechov, der große Meister, ein kleiner, bebrillter Mensch mit dunklem Bärtchen. Jeden Abend kroch er aus seiner Gesamtausgabe und setzte sich zu mir auf das Sofa, um mir Vorträge über das Schreiben zu halten.

„Die Kürze ist die Schwester des Talents.“

„Eine Erzählung ohne eine Frau ist wie eine Maschine ohne Dampf.“

„Das Ende der Erzählung ist gleichsam ein Feuerwerk …“

Ich fühlte mich geehrt, wenn er allerdings mit Dozieren nicht aufhören wollte, wurde er mir ein wenig lästig. Schlimmer noch war es, wenn er zum Schreibtisch schlenderte, einen Rotstift zog und sich über meine Texte hermachte. Ich zuckte innerlich zusammen, wenn ich das Geräusch des Stifts auf dem Papier hörte. Ritsch-Ratsch. Auch meinem Sohn gefiel es nicht – er bekam Blähungen davon.

„Ist denn gar nichts daran gut?“

„Doch“, sagte er mit Sanftmut. „Das, was ich übrig gelassen habe. Wenn du es ein wenig umschreibst …“

Ich war deprimiert. Die wenigen Sätzen, die er mir gelassen hatte, füllten zusammengenommen kaum eine halbe Seite.

„Denke dir keine Leiden aus, die du nicht erfahren hast“, dozierte er. „… denn die Lüge ist in einer Erzählung sehr viel langweiliger als im Gespräch …“

In diesem Moment spuckte ihm mein Sohn eine Portion Milch auf die Hose und er schwieg überrascht.

„Tut mir sehr leid …“, murmelte ich.

„Nitschewo … Das macht gar nichts …“

Er lächelte milde und begab sich zurück in seine Gesamtausgabe, um die Hose zu wechseln.

Ich handelte rasch und zielgerecht. Ein Pappkarton, Paketschnur, jede Menge Klebeband. Ich hörte seinen Protest noch während ich den Karton zuklebte, und das Gewissen schlug mir heftig. Deshalb trug ich den Karton mit seinen gesammelten Werken in den Keller und stopfte ihn hinter das Eingemachte.

Seitdem schreibe ich so, wie ich Lust habe. Kurz oder lang, mit und ohne Dampf, Feuer- oder Wasserwerk … und manchmal lüge ich auch.

Nur an stillen Wintertagen, wenn ich im Keller die eingemachten Äpfelchen hole, höre ich es im Karton wispern.

„Kühnheit. Originalität. Herzlichkeit. Keine Gemeinplätze …“

Dann laufe ich rasch wieder nach oben.